„Man würde eigentlich vermuten, daß ihre Erfindung tiefgreifende Veränderungen im Leben der Menschheit hervorrief ... Denn die Schrift vertausendfacht die Möglichkeit Kenntnisse zu erwerben und zu bewahren. Man würde sie sich gern als eine Art künstliches Gedächtnis vorstellen, dessen Entwicklung eine bessere Kenntnis der Vergangenheit erlaubt und damit eine größere Fähigkeit, Gegenwart und Zukunft zu regeln und zu ordnen. Wenn man alle jene Kriterien ausschalten wollte, die je vorgeschlagen worden sind, um die Barbarei von der Kultur zu unterscheiden, so möchte man wenigstens das Kriterium der Schrift bewahren. Dann ständen auf der einen Seite jene Völker, welche die Schrift kennen und also in der Lage sein sollten, Kenntnisse zu erwerben und daher schneller ... einem selbst gesetzten Ziel entgegenzusteuern.
Auf der anderen Seite befänden sich jene, die nur so viel von der Vergangenheit zu bewahren vermöchten, als dem individuellen Gedächtnis möglich ist; diese Völker wären die Gefangenen einer unsicher schwankenden Geschichte, einer Geschichte ohne Ursprung, ohne Plan und ohne dauerhaftes Bewußtsein. Doch wird eine derartige Vorstellung durch nichts gerechtfertigt, was wir über die Schrift und über die Rolle wissen, die sie in der Entwicklung der Menschheit gespielt hat.“

„Im Neolithikum hat die Menschheit ungeheure Fortschritte gemacht, obgleich ihr die Schrift unbekannt war. Und trotz ihrer Kenntnis haben die historischen Kulturen des Westens während langer Zeit stagniert“ – „seit der Erfindung der Schrift (sind) bis zum Aufblühen der modernen Wissenschaft in der westlichen Welt ungefähr fünftausend Jahre vergangen, während derer sich die Kenntnisse eher gewandelt als angehäuft haben: Die Schrift wurde zwischen dem dritten und vierten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung erfunden; mit welcher großen Erneuerung stand sie im Zusammenhang? „Die einzige historische Erscheinung, die mit dem Aufkommen der Schrift zusammenfiel, ist die Gründung von Städten und Reichen, mit anderen Worten: die Integration einer großen Zahl von Individuen in ein politisches System und ihre Aufteilung in Kasten und Klassen.“

„Dies gilt jedenfalls für die Entwicklung, die sich damals von Ägypten bis China anbahnte. Es scheint somit daß die Schrift der Ausbeutung des Menschen diente, bevor sie seinen Geist erleuchtete. Die Möglichkeit einer derartigen Ausbeutung, die Möglichkeit, Tausende von Menschen zusammenzutreiben und sie zu zwingen, die erschöpfendsten Arbeiten zu verrichten, läßt uns die Geburt der Architektur besser verstehen als die oben angedeutete direkte Beziehung zwischen ihr und der Schrift. Wenn meine Vermutung richtig ist, so bestand also die primäre Funktion der schriftlichen Mitteilung darin, die Versklavung zu erleichtern. Die Verwendung der Schrift zu uneigennützigen Zwecken, das heißt im Dienste intellektueller oder ästhetischer Bemühungen, stellte ein sekundäres Ergebnis dar, das sich außerdem nicht selten in ein Mittel verwandelte, um das primäre zu verstärken, zu rechtfertigen oder zu vertuschen.“

Claude Lévi-Strauss